Freitag, 14. September 2012

Gib mir Liebe und ich zeig dir, wo's lang geht!


Gestern schauten die Mädchen und ich einen Film zusammen. „Dear God“. Alle, die den Film kennen, wissen, dass selbst ein Mensch mit einem Herz aus Stein mindestens am Ende des Films ein Kullertränchen verdrücken muss und alle, die dazu mich kennen, wissen, dass ich maximale Krokodils Tränen heule.
Während des Films versuche ich schon, das Stofftier neben meinem Laptop zu fixieren, um ja nicht die visuelle Stimulation für das Zutragen zur Ausschüttung der salzahltigen Flüssigkeit in meine Augen zu unterstützen. Ich versuche mich an Bauernpsychologie, indem ich versuche an mein schönstes Erlebnis und amüsante Geschichten zu denken.
Es funktioniert, wenn auch mit vermindertem Wasserdurchlass.
Sicherlich wäre es nicht so schamvoll für mich gewesen, Tränchen zu verdrücken, wären die Kinder links und rechts neben mir auch in Rührung ausgebrochen – sind sie aber nicht!
Kann es wirklich sein, dass die Quote unter 10 afrikanischen Mädchen, die vor lauter Emotionen von einem Film heulen muss gleich 0 ist und dass die Deutschland-Quote bei 100 liegt?
Ich ahne, dass ich es hierbei nicht mit einer Anomalie der zufälligen Probandenauswahl, sondern mit einem Fehler im System zu tun habe.
Sogleich versuche ich diesem auf den Grund zu gehen...

Emotionen sind in Ghana ein Zeichen von Schwäche. Es wird unter keinen Umständen über sie geredet. Kinder werden, sobald sie laufen können, als Arbeiter gesehen und ich glaube kaum, dass es zuträglich wäre, wenn man es diesen kleinen Kindern beibringen würde, über ihre Gefühle zu sprechen.
Es ist hier allbekannt, dass eine Mutter, die ihr Kind liebkost und zärtlich umarmt, stirbt.
Allein, wenn man sich diese dörfliche „Weisheit“ auf der Zunge zergehen lässt kann man sich den zärtlichen Umgang mit den Kindern und damit später auch unter Erwachsenen vorstellen. Ich schreibe ihn gerne noch einmal:
Eine Mutter, die ihr Kind liebkost und zärtlich umarmt, stirbt.

Ich habe hier noch nie eine Mutter gesehen, die ihr Kind umarmt hat. Die einzige Ausnahme war, als ein Kind im Kinderheim der eigenen Mutter auf meinen Impuls hin hinterhergerannt ist, um sie zu umarmen, was die junge Mutter(20) dann nicht ausschlagen konnte. Das Mädchen ist 7 und ist nicht ihrem eigenen Impuls nachgegangen, von ihrer Mutter eine Umarmung als Abschied für ich weiß nicht wie lange abzuverlangen!

Auch wenn ich mich hier noch nicht auf der unteren Seite der Erdhalbkugel befinde, steht trotzdem alles Kopf.

Wie kommt es, dass eine Kultur sich selbst so peinigt? Wieso machen es sich die Leute selbst so schwer? Warum richten sie sich emotional selbst zugrunde? Warum wird das intuitive Verlangen nach Liebe so verbannt? (Das Verlangen besteht in der Tat auch hier von den Kindern aus!)
Wo bleibt die für die Entwicklung unverzichtbare physische Stimulation?
Wo bleibt Flower-Power? Wo bleiben die Hippies, die „make love“ proklamieren?
Ghana braucht nicht nur einen Kant und einen Rousseau, sondern es fehlt auch an Novalis oder Eichendorff! Aber wie würden diese auch ganz Ghana erreichen mit ihren romantischen Schriften und ihrer unverzichtbaren Lyrik – in 46 Sprachen?!
Dies ist jedoch ein anderes Kapitel, an dem ich weiterforschen werde.

Zurück zu den Emotionen.

Wir deutschsprachigen Volontäre, voller Elan, ausgestattet mit deutscher Pädagogik und einer Fülle von Zärtlichkeiten, die versuchen sich hier durchzuschlagen, merken, dass wir sofort damit auf die Nase fliegen.

Körperlicher Kontakt wird zwar (meistenteils) von den kleinen Kindern beantwortet, doch auch diese sind schon so in der ghanaischen Tradition verhaftet, dass sie logisch ghanaisch denken können.
Wenn sie 1 und 1 zusammenzählen: 1. Emotionen sind schwach +  Obrunis verschenken Emotionen = Obrunis sind schwach = man kann mit ihnen machen, was man will!

So sieht’s aus!

Sobald man den Kindern hier Liebe und körperliche Zärtlichkeiten schenkt, sie in den Arm nimmt, streichelt, krault oder sonstiges – wo man Zuhause Beziehungen damit vertieft – kann man sich sicher sein, dass sie im nächsten Augenblick tun und lassen, was sie wollen. Dann wird auf keine Regeln mehr Rücksicht genommen, rumgeblödelt, Anweisungen der Obrunis missachtet, usw...

Was soll man also tun? Die kalte Schulter zeigen, damit sie einen respektieren?

Ich denke, die mit schwierigste Aufgabe hier für die Weißen ist es, den Kindern zu vermitteln, dass man ihnen gerne und aufrichtig Liebe schenkt, dass Emotionen stark sind, sie zu äußern und dass Autoritätspersonen, wie Erzieher, beides können: Lieben und streng sein und mehr noch, dass Emotionen für die eigene Seelenhygiene wichtig sind.

Es ist schwierig die Waage von völliger Anpassung aus Verzweiflung und das hier passende Gut meiner eigenen Kultur zu finden und anzuwenden.

Was jedoch auch falsch wäre, die Kinder völlig europäisch zu erziehen. Stelle man sich vor, sie würden hier auf einer europäischen Insel völlig liebevoll, verständnisvoll, liberal aufgezogen werden. Irgendwann in ihrem Leben müssen sie das Kinder Paradise verlassen. Was dann?
Sie wären nicht lebensfähig in der emotionslosen hierarchischen ghanaischen Welt. Sie würden belächelt werden, würden sie nur verlauten, dass der Knochenbruch, den sie sich gerade zugezogen haben, weh tut!  Schmerz und Emotionen werden einfach nicht kommuniziert. Punkt.
Wie kann man den Kindern Emotionen zulassen, wenn man dabei doch eigentlich herzlos ist, weil sie später noch mehr unter der Gesellschaft leiden werden?
Doch hat sich Gesellschaft nicht immer unter dem Leid einiger oder vieler geändert?
Wie viel „Leid“ braucht es, um Ghana zu verändern?

Aber mehr noch: habe ich überhaupt das Recht, so über die Kultur hier zu urteilen?
Was ist mit unserer Psychologie und unseren Erkenntnissen über Kindererziehung und Pädagogik? Es gibt sicherlich viele „richtige“ Erziehungsansätze – welche sind falsch?

Ihr lest mich wieder einmal sprachlos, aber neugierig!

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